Freitag, 6. Oktober 2017

War die Krise zu kurz?

eine interessante Betrachtung vom renommierten Ökonomen Dr. Martin Hüfner

Krisen sind nicht nur Krankheiten. Sie bieten auch die Chance, Fehlentwicklungen zu korrigieren und aus Irrtümern zu lernen. Die derzeitige Finanzkrise ist die stärkste und kürzeste der Nachkriegszeit. Bisher gibt es wenig Anzeichen, dass sie zu einer Änderung der Verhaltensweisen geführt hat. Wenn die Welt zu schnell wieder zur Tagesordnung übergeht, ist die Gefahr groß, dass sie wieder in die alten Strukturen zurückfällt und es zu neuen Krisen kommt.


Könnte es sein, dass die derzeitige Wirtschafts- und Finanzkrise zu kurz war? Das klingt auf den ersten Blick zynisch. Wer wünscht sich schon mehr Arbeitslosigkeit, rückläufige Geschäfte in den Unternehmen oder sinkende Aktienkurse? Aber Krisen sind im Leben einer Gesellschaft nicht nur Krankheiten. Sie haben auch wichtige Korrekturfunktionen. Sie bringen die Menschen auf den Boden der Realität zurück. Sie bereinigen Fehlentwicklungen. Wenn es keine Krisen gibt, wird auch die Gelegenheit vertan, aus Irrtümern zu lernen. Also noch einmal: War die Krise zu kurz, um zu einer Chance zu werden? Welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus? Natürlich kommt die Frage etwas früh. Die Krise ist noch nicht zu Ende. In den USA und in Euroland ist das reale Bruttoinlandsprodukt bis zuletzt gesunken. Die Arbeitslosigkeit ist hoch und wird weiter steigen. Die Insolvenzen werden zunehmen. Die Bankenkrise ist noch nicht vorbei. Trotzdem deutet manches darauf hin, dass das Schlimmste hinter uns liegen könnte. Die Talsohle ist erreicht, wie es der Präsident der Deutschen Bundesbank, Axel Weber, formulierte.

Schauen wir uns unter dieser Hypothese die Dauer der Krise an. In Deutschland betrug die durchschnittliche Länge der Rezessionen in der Nachkriegszeit rund 2 ½ Jahre. Das reale Bruttoinlandsprodukt ging in dieser Zeit im Schnitt um etwas mehr als 2 % zurück. Diesmal war es anders. Die Wirtschaftsleistung verringerte sich um fast 7 %. Die Rezession dauerte aber insgesamt nur ein Jahr. Sie setzte im zweiten Quartal 2008 ein und endete bereits wieder im ersten Vierteljahr dieses Jahres. Wenn man die Finanzmarktprobleme hinzurechnet, die im Sommer 2007 begannen, dann kommt man auf eine Dauer von zwei Jahren.

Auch das ist nach den Erfahrungen der Vergangenheit relativ wenig. Wir erlebten also den schwersten, gleichzeitig aber auch den kürzesten Einbruch in den letzten fünfzig Jahren.

Er war offenbar zu kurz, um nachhaltige Wirkungen in der Wirtschaft und auf den Finanzmärkten hervorzurufen. Wo immer man hinschaut, hat sich an den Verhaltensweisen der Akteure nicht viel verändert. Im Eigenhandel der Banken wird wie vorher ein großes Rad gedreht. Den Händlern werden zum Teil wieder erhebliche Boni gezahlt, um ihre Risikoneigung zu fördern (jedenfalls in den Häusern, die kein Staatsgeld in Anspruch genommen haben). Die Konkurrenz um gute Leute nimmt zu. Headhunter im Bereich der Finanzwirtschaft haben wieder alle Hände voll zu tun.

Als Folge wachsen die Risiken auf den Finanzmärkten. Auf den Aktienmärkten springen viele auf den fahrenden Zug auf aus Angst, den Aufschwung zu verpassen. Internationale Investoren ziehen aus den USA Mittel ab, die sie dort aus "Vorsichtsgründen" geparkt hatten, um damit anderswo Geld zu verdienen. Gesamtwirtschaftlich zeigt sich das in einer Abwertung des Dollars. Zertifikate, die wegen der zu geringen Transparenz und des Emittentenrisikos kritisiert worden waren, werden nicht nur von Profis wieder gekauft. Die "neue Bescheidenheit" bei den Unternehmen ist zum Teil schon wieder verloren gegangen.

Der Ruf in der Krise, die Banken müssten sich mehr um den Kunden kümmern, scheint zu verhallen. Wo ist die Bank, die sich nicht nur mit Worten auf die Fahnen schreibt, verstärkt um das Vertrauen der Kunden werben zu wollen? Dabei lag in der zu geringen Kundenorientierung der Hauptgrund für den Verlust an Reputation in der Öffentlichkeit.

Aber auch bei den staatlichen Regulierungen tut sich wenig. Die Vorschriften für die Boni werden verschärft. Das Risiko-Management wird besser überwacht. Steueroasen werden bekämpft (obwohl sie vermutlich wenig mit der Krise zu tun hatten). Aus dem umfassenden Katalog an Regulierungen, den das Financial Stability Forum im Frühjahr vorigen Jahres vorgelegt hatte und das von den Finanzministern der großen Industrieländer quergeschrieben worden war, ist – bisher jedenfalls – nicht viel geworden. Es ist zu befürchten, dass sich daran auch nichts Grundlegendes ändert.

Wenn die Krise aus dem Fokus der Umfragen verschwindet, werden sich die Politiker neuen Prioritäten zuwenden.

Das weckt Zweifel, ob wir aus der Krise wirklich etwas dazugelernt haben. In der Asienkrise vor zehn Jahren war das anders. Damals saß der Schock so tief, dass wirklich Konsequenzen gezogen wurden. Den Chinesen steckte die Krise so sehr in den Knochen, dass sie trotz riesiger Währungsreserven keine toxischen Wertpapiere erwarben, sondern sich mit der niedrigeren Rendite von amerikanischen Staatsanleihen begnügten.

Dass die Krise so kurz ist, liegt natürlich an den massiven Konjunktur- und Bankenrettungsprogrammen der Staaten und der Zentralbanken. Kein Zweifel, diese Maßnahmen waren notwendig. Dadurch konnten die negativen Auswirkungen gering gehalten werden. Demokratische Gesellschaften, die auf dem Vertrauen ihrer Bürger beruhen, können nicht zu viel Schmerz vertragen (die politischen Folgen der Weltwirtschaftskrise sind vor allem in Deutschland nach wie vor ein Menetekel). Die Folge aber ist, dass die Reinigungsfunktion der Krisen wegfällt. Der Patient erhält nur Antibiotika. Das reicht nicht, damit sich im Körper genügend Abwehrkräfte bilden.

Letztlich handelt es sich hier um eine schwierige Abwägungsfrage, auf die es keine einfache Antwort gibt. Auf der einen Seite brauchen wir Konjunkturprogramme, um die gesellschaftlichen Schäden von wirtschaftlichen Schwankungen gering zu halten. Auf der anderen Seite ist aber auch der Druck von Krisen nötig, um Verhaltensweisen zu verändern. Vielleicht haben wir diesmal bei den Konjunkturprogrammen des Guten etwas zu viel getan.

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